In Zeiten zunehmender Extremwetterlagen infolge des fortschreitenden Klimawandels sind die ehrenamtlichen Helfer des Technischen Hilfswerks (THW) geforderter denn je. Um ihrer Rolle als Einsatzkräfte der operativen Zivil- und Katastrophenschutzorganisation des Bundes gerecht zu werden, durchlaufen sie eine umfassende Ausbildung. Ein Weg, das hohe Niveau dieser Ausbildung zu bewahren und weiter zu heben, könnte Extended Reality (XR) sein. Vielversprechende Pilotprojekte wie das Einsatz-Gerüst-System (EGS)-VR testen schon heute, wie die traditionelle Ausbildung zukünftig von der Ergänzung durch virtuelle Welten profitieren kann.
75 Jahre alt ist das THW am 22. August dieses Jahres geworden. Feierlichkeiten und öffentliche Begleitung des Jubiläums haben vielfach Anlass gegeben, einen Blick zurückzuwerfen auf die bewegte Geschichte der deutschen Bevölkerungsschutzorganisation.
Sichtbar wurde auf allen Ebenen eine tiefgreifende Professionalisierung: Fahrzeuge, Einsatzkleidung, Ausrüstung – sie alle durchlaufen noch heute eine stete Transformation. Nicht zuletzt infolge zunehmend komplexer Schadenslagen sind auch die Einsatzoptionen des THW vielfältiger geworden. Ein Beispiel: Im Mai dieses Jahres feierte das THW die Gründung des ersten virtuellen Ortsverbands (OV). Seine eigens geschulten Mitglieder operieren ausschließlich im digitalen Raum, wo sie unter anderem auf hybride Bedrohungslagen reagieren können, indem sie beispielsweise gezielt lancierte einsatzrelevante Falschmeldungen im Internet aufspüren.
Doch auch für die Helfer der übrigen 668 OV bringt die zunehmende Spezialisierung auf ihre jeweiligen Einsatzoptionen mehr denn je die Notwendigkeit einer umfassenden Ausbildung in ihren Einheiten und Fachgruppen mit. Die Digitalisierung eröffnet hier neue Möglichkeiten – Pilotprojekte, die Trainingsmethoden für das Ehrenamt mit Virtual Reality (VR) kombinieren, weisen den Weg in eine mögliche Zukunft.
Das Unmögliche in virtuellen Welten möglich machen
Der Sammelbegriff der XR umfasst verschiedene immersive Technologien: Neben der Augmented Reality (AR) und der Mixed Reality (MR), die sich dadurch auszeichnen, dass die reale Welt für Nutzende um virtuelle Inhalte angereichert bzw. damit kombiniert wird, umfasst er auch VR, also eine vollständig simulierte Umgebung, mit der Nutzende interagieren.
Grundsätzlich verspricht die Nutzung von XR für die ehrenamtliche Ausbildung im THW eine Reihe von Vorteilen: So können die ehrenamtlichen Einsatzkräfte in der virtuellen Realität Szenarien trainieren, die sich bei Übungen in der realen Welt gar nicht, nur kostspielig, unter großem Aufwand oder Gefährdung der Übenden abbilden ließen. VR-Anwendungen, die zum Training von THW-Kräften genutzt werden, lassen sich in zwei Kategorien unterscheiden:
Im simulativen Training üben die Teilnehmenden primär, wie sie ein Arbeitsmittel korrekt bedienen – in der Regel wird besagtes Arbeitsmittel für diesen Zweck möglichst detailgetreu nachgebildet. Im Falle des später noch näher vorgestellten Einsatz-Gerüst-System(EGS)-VR beispielsweise setzen die Teilnehmenden verschiedene Gerüst-Konstruktionen zusammen, was gegenüber dem Training unter realen Bedingungen erhebliche Ressourcen spart, da beliebig viele Einsatzkräfte zeitgleich üben können.
Das Training an anderen Arbeitsmitteln wiederum ist unter realen Bedingungen kaum möglich: So fokussiert eine weitere VR-Anwendung, die derzeit im THW erprobt wird, Szenarien, die chemische, biologische, radiologische oder nukleare Bedrohungen beinhalten (CBRN-VR-Simulation). Im virtuellen Raum sind Helfende nun in der Lage, praktisch mit Strahlungsmessgeräten zu trainieren. Dass ein Messwert erst zeitverzögert auf dem Gerät erscheint, wie Abstände, Hindernisse und unterschiedliche Strahlungstypen die Messung beeinflussen und was die richtige Reaktion auf Warntöne ist – all das konnten sie vor wenigen Monaten in einem ersten offiziellen Praxistest kennenlernen.
Hierfür wurde die CBRN-VR-Simulation derart angepasst, dass die reale Umgebung sichtbar blieb, sodass die Teilnehmenden Kollisionen mit anderen Übenden oder ihrer Umgebung vermeiden konnten. Da sie also nicht länger mit einer vollständig simulierten Umgebung interagierten, sondern mit virtuellen Inhalten, die mit der realen Welt kombiniert wurden, nutzten sie streng genommen nicht VR, sondern MR.
Im ungleich dynamischeren situativ-entdeckenden Training müssen die Teilnehmenden in spezifischen Einsatzszenarien unter ständig hinzukommenden Komplikationen die richtigen Entscheidungen treffen und Arbeitsabläufe einüben. Bei Szenarien, die sich aufgrund ihrer Komplexität oder Dimension kaum realitätsnah trainieren lassen, kann der immersive Charakter von VR entschieden zu einem effizienteren Training beitragen. Dies ist etwa der Fall, wenn Führungspersonal risikoreiche Entscheidungen treffen muss und dabei ob des Eindrucks, sich mitten in einem laufenden Geschehen zu befinden, realen Stress empfindet.
In einer anschließenden Phase der Reflexion können die Teilnehmenden die eigenen Handlungen und Entscheidungen reflektieren und so Einsatzsituationen beliebig oft realitätsnah „durchspielen“, um Sicherheit in ihrem Handeln zu gewinnen. Voraussichtlich werden nicht alle dieser Anwendungen Einzug in die bundesweite Anwendung halten. Sie zeigen aber auf, welche Potentiale VR für die Ausbildung von Bevölkerungsschutzkräften bietet.
Aus dem Ehrenamt für das Ehrenamt: EGS-VR
Die Rolle, die VR in der Ausbildung der ehrenamtlichen THW-Kräfte eines Tages einnehmen könnte, wie auch der Weg hin zur internen Entwicklung einer VR-Anwendung: Beides zeigt anschaulich das EGS-VR, das seit Anfang 2024 als Pilotstudie am THW-Ausbildungszentrum in Hoya in Betrieb ist und bereits mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurde. Mehr als 160 THW-Kräfte haben inzwischen damit trainiert.
Das EGS ist ein nicht fortzudenkendes Einsatzmittel jeder THW-Bergungsgruppe. Aus seinen zusammensteckbaren Stahlrohren entstehen Stege, Türme, am häufigsten jedoch Stützen für einsturzgefährdete Gebäude, die den Einsatzkräften sicheres Arbeiten ermöglichen. Je nachdem, welche der 24 Konstruktionen mit teils über 100 Bauteilen errichtet wird, schwankt die Aufbauzeit für ein EGS zwischen wenigen Minuten und mehreren Stunden.
Um den enormen Trainingsaufwand zu minimieren, entwickelten ehrenamtliche THW-Kräfte aus verschiedenen Ortsverbänden Deutschlands im Zusammenspiel mit der THW-Forschung das EGS-VR – in enger Zusammenarbeit mit weiteren ehrenamtlichen THW-Kräften, die das Team der Entwickelnden immer wieder für Feedback konsultierte. Inzwischen konnte sich das EGS-VR als Vorlernphase für einen Lehrgang mit EGS-Inhalten bewähren, wo es im Rahmen seiner testweisen zweijährigen Verwendung positive Auswirkungen auf die Erfolgsquote derjenigen hatte, die mit der Anwendung trainiert hatten.
Die Anwendung nutzt innerhalb der virtuellen Umgebung Hinweistafeln und visuelle Marker, um die korrekte Reihenfolge und Ausführung der einzelnen Schritte zu verdeutlichen: Einerseits wird das als nächstes auszuwählende Gerüstelement grafisch hervorgehoben, andererseits zeigt ein transparentes Hologramm, wo das entsprechende Element platziert werden soll. Auch eine handbuchähnliche Anleitung ist jederzeit sichtbar. So können sich THW-Kräfte, die im Umgang mit EGS noch wenig Erfahrung gesammelt haben, bereits virtuell mit den einzelnen Schritten vertraut machen.
Aber auch THW-Kräfte, die bereits grundsätzlich mit dem EGS vertraut sind, können über das EGS-VR beispielsweise vor Lehrgängen konkrete Konstruktionen studieren – wie etwa in der zweijährigen Testphase geschehen. Hervorzuheben ist, dass das VR-Training nicht zum Ziel hat, das Üben am physischen EGS zu ersetzen. Vielmehr bildet es eine diesem Schritt vorgelagerte zusätzliche Trainingsmöglichkeit, mit deren Hilfe die Helfer ein vertieftes Verständnis für die jeweiligen EGS-Konstruktionen entwickeln können, um im Anschluss effektiver am realen EGS zu trainieren.
Offiziell praxistauglich: Die Vorteile von EGS-VR überzeugen
Viele der Vorteile, die mit der Implementierung einer solchen zusätzlichen Trainingsstufe einhergehen, liegen auf der Hand: Die Unfallgefahr etwa ist gegenüber dem Training mit einem realen EGS deutlich minimiert. Auch eine neue Flexibilität wird gewährt: Für ihr Training benötigen die Übenden schließlich nicht mehr als eine VR-Brille. Sobald sie diese erhalten haben, können sie frei wählen, von welchem Ort aus sie zu welcher Zeit eine Übungseinheit absolvieren wollen – und auch, wie oft sie diese wiederholen wollen.
Gerade bei komplexen Einsatzmitteln wie dem EGS wird enorm viel Zeit und Aufwand eingespart, wenn nicht nur einige wenige Helfende am Gerüst üben können, sondern beliebig viele Helfende zur gleichen Zeit. Zugleich gewährt die immersive Technologie – das eigene Erleben des EGS-Bauprozesses im dreidimensionalen Raum – Zugang zu einer vollständig anderen Verständnisebene, als es über die rein passive Rezeption des entsprechenden Handbuchs oder eines Video-Tutorials zugänglich wäre.
2024 veröffentlichten der ehrenamtliche Projektleiter Dr. Leon Pietschmann und Fritz Pickhardt von der THW-Forschung die Ergebnisse einer Studie. In dieser untersuchten sie, wie effektiv ehrenamtliche THW-Einsatzkräfte mit dem EGS-VR trainierten, als wie effektiv die Teilnehmenden selbst dieses Training bewerteten und welche weiteren potenziellen Verwendungsmöglichkeiten für VR sie im Kontext von Zivil- und Katastrophenschutz sahen. Mehrheitlich bewerteten die Teilnehmenden sowohl das EGS-VR an sich als auch die darin enthaltenen visuellen Hinweise positiv.
Ihre Aufgabe lösten sie schnell und nahezu fehlerfrei. Ihre Vorschläge bezüglich potenzieller Einsatzmöglichkeiten von VR im Katastrophen- und Zivilschutzkontext entsprachen in vielerlei Hinsicht den bereits genannten Vorteilen von VR-Trainings und deckten sich damit mit der Einschätzung, dass die Nutzung von VR für eine Katastrophen- und Zivilschutzorganisation wie das THW enorme Potenziale verspricht. Sie nannten aber auch neue Einsatzmöglichkeiten wie etwa die Nutzung von VR für die Lagebilderstellung, das Training mit gefährlichen Gütern oder Materialien oder um Einsätze vor- und nachzubereiten.
Wohin führt die Zukunft?
Was ist nun der nächste Schritt für das EGS-VR? Nach der zweijährigen Testphase am Ausbildungszentrum könnten von der Anwendung auch die Ortsverbände profitieren. Immersive Medien wie das EGS-VR könnten prinzipiell auch bundesweit genutzt werden. Dafür werden vor Ort neben dem VR-System auch die zugehörige Software sowie Schulungsmaterialien benötigt. Wie eine solche Verteilung realisiert werden kann, befindet sich aktuell in der Planung.
Eine konkrete Überlegung ist, die VR-Ausstattung in Form von Ausbildungskoffern auf Ebene der Landesverbände zur Ausleihe bereitzustellen. Neben dem Vorhandensein der technischen Ausstattung muss auf den verschiedenen Ausbildungsebenen auch gegeben sein, dass die Ausbildenden unter anderem darin geschult sind, die VR-Szenarien zu steuern, die Geräte zu pflegen und VR-Technologien pädagogisch einzubinden. Einige Hürden bleiben also noch.
Und wie geht es darüber hinaus weiter mit virtuellen Welten im THW? Ein Projekt wie das EGS-VR, das den Sprung von der Forschung in die testweise Nutzung durch die THW-Ausbildungszentren geschafft hat, bietet den Nährboden für weitere Erprobung von VR-Technologien im THW. Es gibt Antworten auf eine Vielzahl an praktischen Fragen: Wie wird VR von den Übenden akzeptiert? Welche Anforderungen bestehen an technische Ausstattung? Welche Kosten entstehen, wie müssen Ausbildende geschult werden? Und nicht zuletzt: Wie hoch ist der potenzielle Nutzen, den VR mitbringt?
Das EGS-VR ist damit nicht nur für sich genommen ein aufsehenerregendes Projekt, sondern weist den Weg in eine mögliche Zukunft, in der VR-basierte Lernphasen die klassischen Ausbildungsmethoden im THW ergänzen können. Schon heute führt die THW-Forschung Studien mit Anwendungen in den Bereichen Führungsausbildung, CBRN, Logistik, Gerätetrainings oder auch Soft Skills durch, um einen möglichen Einsatz in der Ausbildung vorzubereiten. Mit dem „Reallabor Künstliche Intelligenz“ (KI-Reallabor) besitzt sie seit 2019 einen geschützten Experimentalraum für die Untersuchung der „Mensch-Maschine-Schnittstelle“ XR – und eine Brücke zum THW-Ehrenamt, dessen Kräfte einerseits ihre Expertise beisteuern und andererseits an Anwendungen mitwirken, die ihren speziellen Bedürfnissen in hohem Maße entsprechen.
Auch wenn der Weg von der Forschung in die Praxis mitunter lang ist, fest steht: Langfristig wird XR ein fester Bestandteil der Ausbildung des THW werden. Auf organisatorischer Ebene ist dabei ein möglicher nächster Schritt die weitere Vernetzung mit anderen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, die ähnlichen Herausforderungen im Bereich Simulationen und VR womöglich bereits erfolgreich begegnen.
Zuvor jedoch gilt es zu erfassen, welche diesbezüglichen Erfahrungswerte bereits innerhalb des THW vorhanden sind. Zu diesem Zweck haben das THW-Ausbildungszentrum und das KI-Reallabor im Jahr 2024 ein internes Netzwerk gegründet. Es erfasst, wo Simulationen bereits als Lehrmethoden genutzt werden – mit dem Ziel, gemeinsam vom bereits vorhandenen Wissens- und Erfahrungsschatz zu profitieren. Es ist der Anfang eines Wegs. Die ersten Schritte aber lassen Aufregendes ahnen.
Autor: Ruben Brüstle Bundesanstalt Technisches Hilfswerk
Erstmals erschienen in: Crisis Prevention 4/2025
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