Die Frequenz und Intensität komplexer wetterbezogener Schadenslagen nehmen nachweislich zu. Getrieben durch klimatische Veränderungen, die sich in Extremwetterereignissen wie Sturzfluten oder Bergwaldbränden manifestieren sowie durch ein sich wandelndes Risikoverhalten in der Gesellschaft, entstehen neue Anforderungsprofile für die Gefahrenabwehr. Insbesondere im alpinen Raum und in den Mittelgebirgen führt dies zu Einsätzen, die ein Höchstmaß an technischer, medizinischer und prozeduraler Kompetenz erfordern.
In der Bundesrepublik Deutschland wird die nicht-polizeiliche Gefahrenabwehr, insbesondere im Katastrophenschutz, maßgeblich von ehrenamtlichen Strukturen getragen. Die Bergwacht Bayern, als besonderer Teil des Bayerischen Roten Kreuzes, stellt hierbei mit rund 4.500 freiwilligen Einsatzkräften die primäre Rettungsorganisation im unwegsamen Gelände dar. Dies erzeugt ein strategisches Spannungsfeld: Wie kann eine auf dem Freiwilligkeitsprinzip basierende Organisation einen professionellen Anspruch gewährleisten, der mit dem staatlich getragener, beruflicher Einheiten vergleichbar ist oder diesen in Spezialdisziplinen übertrifft?
Die Bergwacht Bayern löst dieses Paradoxon durch eine strategische Definition von Professionalität. Diese wird nicht als Kommerzialisierung (im Sinne einer bezahlten Tätigkeit), sondern als ein unbedingter qualitativer Imperativ verstanden, der als eines der zentralen Handlungsfelder der Organisation definiert ist. Die These dieses Artikels ist, dass die Bergwacht Bayern diese Professionalität durch eine kohärente Professionalisierungs-Architektur systematisch sicherstellt. Diese Architektur ruht auf zwei interdependenten Säulen: Dem Zentrum für Sicherheit und Ausbildung (BW-ZSA) in Bad Tölz als einer dedizierten High-Tech-Simulations-, Trainings- und Entwicklungsplattform und der Ausbildung zum Air Rescue Specialist (ARS) als einer hochspezialisierten und periodisch rezertifizierten Einsatzkraft.
Die „Hardware“: Das BW-ZSA
Die Basis für die Professionalisierung der Bergwacht-Kräfte ist eine Infrastruktur, die eine standardisierte Ausbildung auf höchstem Niveau erst ermöglicht. Die Idee zur Entwicklung einer Simulationsanlage für die Luftrettung entstand bereits 2003 innerhalb der Bergwacht Bayern; 2008 wurde das BW-ZSA dann in Bad Tölz in Betrieb genommen. Um den Betrieb und die Qualitätssicherung langfristig und unabhängig von kurzfristigen Haushaltsentscheidungen zu sichern, überführte die Bergwacht Bayern das BW-ZSA 2012 in eine rechtlich selbständige, gemeinnützige „Stiftung Bergwacht“.
Das Grundkapital dieser Stiftung bildet die Immobilie des BW-ZSA selbst (Bergwacht Bayern, o.D.a). Der Stiftungszweck ist satzungsgemäß festgeschrieben als „Förderung der Rettung aus Lebensgefahr“ und des Katastrophenschutzes, primär durch den „Betrieb des Bergwacht-Zentrums für Sicherheit und Ausbildung“ unter Aufsicht der Regierung von Oberbayern.
Ehrenamtliche Strukturen stehen naturgemäß vor der Herausforderung, „low-frequency, high-risk“ (seltene, aber hochriskante) Ereignisse – wie eine Seilbahnevakuierung oder eine komplexe Windenrettung – nicht im Alltag zu erleben. Das BW-ZSA kompensiert diesen Mangel an realer Einsatzerfahrung durch die Bereitstellung einer standardisierten, reproduzierbaren und sicheren Trainingsumgebung.
Das pädagogische Fundament ist die „High-Fidelity-Simulation“, die einen möglichst hohen Realismus-Grad anstrebt. Aktuelle pädagogische Forschung im Bereich der Notfallsanitäter-Ausbildung belegt einen klaren Zusammenhang zwischen dem Realismusgrad einer Simulation und dem Lernerfolg. Dies gilt insbesondere für Auszubildende mit „noch begrenzter Erfahrung“ in einem spezifischen Szenario. Das BW-ZSA implementiert diese Erkenntnis durch eine modulare Trainingslandschaft, die eine strukturierte Fehlerkultur und professionelles Debriefing (z.B. mittels der 3B-Technik: Beobachtung, Beurteilung, Befragung) ermöglicht.
Technologische Umsetzung der BW-ZSA-Module
Das BW-ZSA stellt eine 60 Meter lange und 17 Meter hohe Simulationshalle bereit, die exakt auf die Anforderungen der alpinen Luftrettung und der Notfallmedizin in Extremlagen zugeschnitten ist. Kernstücke sind zwei Luftrettungssimulatoren. Der 2024 in Betrieb genommene Flugsimulator H 145 basiert auf einer originalgetreuen H 145-Zelle und erlaubt das Training von Standard- und Spezialverfahren an der Rettungswinde unter realitätsnahen Flugbewegungen, Rotorenlärm und reduziertem Downwash.
Der Flugsimulator AMST kann diverse Muster (z.B. Super-Puma, NH 90) darstellen und ermöglicht das Training unter vollem Downwash (siehe Abbildung 1).
Der Bergwetterraum (auch als „Kältekammer“ bezeichnet) kann Temperaturen bis -20 °C sowie Nebel, Wind und Regen simulieren. Hier wird die „Notfallmedizin in Extremlagen“ unter physischem und psychischem Stress trainiert. Eine Seilbahnanlage mit Kabinen und Sesseln dient wiederum dem Training der Seilbahnevakuierung, sowohl terrestrisch als auch luftgebunden. Zudem gibt es einen 16 Meter tiefen Schacht für die Höhlenrettung sowie einen voll ausgestatteten Schockraum für das Training der gesamten Rettungskette vom Zugang am Berg bis zur Übergabe in der Klinik, die die Anlage ergänzen.
Die „Software“: Der Air Rescue Specialist (ARS)
Die Infrastruktur des BW-ZSA dient der Ausbildung und Qualifizierung der „Speerspitze“ der Bergwacht-Luftrettung: dem ARS. Diese Spezialisten führen die komplexesten Winden- und Rettungsverfahren im alpinen Raum durch. Das Anforderungsprofil spiegelt darum auch professionelle Standards wider: Neben der gültigen Windenberechtigung und entsprechender körperlicher Fitness wird explizit die „tagesaktuelle physische und psychische Leistungsfähigkeit“ gefordert. Wer „nicht fit ist, begleitet keinen Hubschraubereinsatz“.
Die „Verzahnung“ von BW-ZSA und ARS wird im Ausbildungscurriculum manifest. Die im BW-ZSA (Abschnitt 2.3) verorteten Hardware-Module sind dabei die direkte pädagogische Antwort auf die Skillset-Anforderungen des ARS:
- Szenario Seilbahn: Das Training zur „Rettung aus Seilbahnen“ wird am Seilbahn-Modul des BW-ZSA durchgeführt (siehe Abbildung 2).
- Szenario Alpine Notfallmedizin: Das Modul „Absetzen und Ablassen am Standplatz mit medizinischer Versorgung“ wird in der Simulationsumgebung (Kletterwände, Bergwetterraum) und im Schockraum des BW-ZSA trainiert.
- Szenario Spezialrettung (Winde): Die „Kapprettung“ – das kontrollierte Kappen einer im Seil hängenden Person – wird als „eine der anspruchsvollsten Hubschrauberrettungen“ beschrieben. Dieses Hochrisiko-Manöver wird standardisiert und sicher in den Flugsimulatoren des BW-ZSA trainiert.
Das schlagendste Argument für die Professionalität des ARS-Systems ist die Implementierung einer kontinuierlichen Qualitätssicherung. Die ARS-Kräfte absolvieren eine „Fortbildung zur jährlichen Rezertifizierung“ im BW-ZSA, wobei dieser systematische, jährliche Rezertifizierungs-Zyklus in einer High-Fidelity-Umgebung etabliert einen Qualitätsstandard, der jenem der professionellen Luftfahrt oder der Medizin entspricht und sich an internationalen Benchmarks, wie den Empfehlungen der International Commission for Mountain Emergency Medicine, orientiert.
Stellt man dieses System in den Kontext der Professionalisierungs-Debatten im deutschen Rettungswesen, ergibt sich eine bemerkenswerte Erkenntnis: Während im beruflichen Rettungsdienst (Notfallsanitäterwesen) die pädagogische Qualifikation für Ausbilder (Praxisanleiter) erst 2021 auf 300 Stunden angehoben und eine neue jährliche pädagogische Fortbildungspflicht von 24 Stunden eingeführt wurde, lebt die ehrenamtliche Bergwacht mit dem Luftretter seit Jahren einen höheren Standard.
Der Fokus des BW-ZSA war dabei von Beginn an explizit interdisziplinär ausgelegt, da die Grundidee die Schaffung einer „Plattform für professionellen Austausch“ für verschiedene Organisationen, „nicht nur für die Bergwacht Bayern“, war. Diese Vision ist heute Realität, was sich dadurch zeigt, dass das BW-ZSA heute ein „Mittelpunkt durch die Zusammenarbeit mit der Bergwacht, der Luftrettung, der Wasserrettung, der Polizei und der Feuerwehr“ ist. Es dient Organisationen aus Bayern, Deutschland und Europa.
Ein konkretes Beispiel ist die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Der DLRG-Landesverband Bayern nutzt das BW-ZSA der Bergwacht-Stiftung für ihre eigene „Jährliche Rezertifizierung für Luftretter-Wasser“. Es gehe darum, „gemeinsam mit Partnern […] Standardverfahren [zu] entwickeln und diese in den täglichen Einsatzbetrieb [zu] übertragen“ sowie Material „gemeinsam fest[zu]legen“.
Großschadenslagen verschlimmern sich aufgrund der mangelnden Interoperabilität zwischen verschiedenen Organisationen (BOS). Das BW-ZSA fungiert hier als „organisatorischer Kalibrator“. Indem der DLRG-Retter, der Polizei-Hubschrauberbesatzungen und der Bergwacht-ARS im selben H145-Simulator gemeinsame Windenverfahren trainieren, schaffen sie eine gemeinsame prozedurale Sprache und Standard Operating Procedures (SOPs).
Hierbei kehrt sich die typische Hierarchie (staatliche Profis > Ehrenamt) um. Die ehrenamtliche Bergwacht stellt die High-Tech-Plattform bereit, die staatliche, professionelle Akteure (Polizei) und andere BOS (Feuerwehr, DLRG) aktiv nutzen, um ihre eigene Einsatzfähigkeit zu gewährleisten und zu standardisieren.
Dabei fließen Erkenntnisse aus Einsatz und Ausbildung aller an der Luftrettung in Bayern beteiligter Organisationen zentral im BW-ZSA zusammen. Dies geschieht durch die jährlich mehrmals stattfindende Sitzung des Fachbeirats Luftrettung des bayerischen Staatsministeriums des Innern am BW-ZSA, ein interdisziplinäres Gremium der verschiedenen Hubschrauberbetreiber, der Landes- und Bundespolizei und dem BW-ZSA. Hierbei werden Verfahren untereinander abgestimmt und standardisiert.
Perspektive: Vom bayerischen Modell zum nationalen Standard?
Der Bedarf an mehr gut ausgebildeten und einheitlichen Standards ist evident. Die Antwort der Bergwacht Bayern auf diese steigenden Anforderungen ist proaktiv: die geplante Erweiterung des BW-ZSA zum „Bayerisches Zentrum für Alpine Sicherheit“ soll „moderne Schulungsräume für Einsatzführung, Kommunikation und Digitalisierung“ sowie „spezialisierte Trainingsflächen für Katastrophenschutz und Sonderlagen“ bieten.
Während Fachleute im beruflichen Rettungsdienst den nationalen „Flickenteppich“ beklagen – „16 Bundesländer, 16 Rettungsdienstgesetze […] meilenweit entfernt von den Standards“ – hat die Bergwacht Bayern de facto einen standardisierten, organisations- und länderübergreifenden Standard für Spezial-Luftretter geschaffen.
Autoren:
Prof. Dr. Raphael Röttinger Professor mit Lehrauftrag für operative Terrorismusabwehr sowie Führungslehre in besonderen Einsatzlagen an der Universität Krems.
Michael Vierling Diplom-Verwaltungswirt (FH) und im Fachbereich Führung und Einsatz am Fortbildungsinstitut der Bayerischen Polizei in Ainring tätig.
Erstmals erschienen in: Crisis Prevention 4/2025
Mit WhatsApp immer auf dem neuesten Stand bleiben!
Abonnieren Sie unseren WhatsApp-Kanal, um die Neuigkeiten direkt auf Ihr Handy zu erhalten. Einfach den QR-Code auf Ihrem Smartphone einscannen oder – sollten Sie hier bereits mit Ihrem Mobile lesen – diesem Link folgen:











