Mit mehreren Jahrzehnten Erfahrung im Notfall- und Krisenmanagement sowie in der Katastrophenmedizin und Expertise rund um den Bevölkerungsschutz ist Jürgen Schreiber ein angesehener Ansprechpartner, wenn es um medizinischen CBRN-Schutz geht. Er ist Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin (DGKM) sowie nationaler Experte im Europäischen Katastrophenschutzverfahren und hat sich zum Ziel gesetzt, die systematische und operative Resilienz aller Akteure im gesundheitlichen Bevölkerungsschutz zu steigern. Im Gespräch mit dem Security Network wagt Jürgen Schreiber einen Rundumschlag: Wir sprechen über seine Anfänge beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) und der Feuerwehr, vor allem aber über seine Erkenntnisse für gelingenden CBRN-Schutz. Was das alles am Ende mit einem verwobenen Drahtseil zu tun hat, lesen Sie im folgenden Bericht.
„Ich komme aus der Blaulicht-Ecke, und zwar relativ deutlich“, beginnt Jürgen Schreiber unser Gespräch. Seit über 50 Jahren ist er nun im Arbeiter-Samariter-Bund aktiv, zunächst hauptberuflich im Rettungsdienst beschäftigt, dann ehrenamtlich. Einschneidend für seine weitere Auseinandersetzung mit dem gesundheitlichen CBRN-Schutz sollte allerdings ein besonderer rettungsdienstlicher Einsatz mit CBRN-Beteiligung sein, zu dem er in seiner Zeit der Laufbahnausbildung zum gehobenen Dienst bei der Berufsfeuerwehr Hamburg ausrückte.
Nach diesem Ereignis begann Jürgen Schreiber damit, sich trotz der ihm bislang fehlenden Berührungspunkte mit der Wehrmedizin mit dem Thema des ABC-Schutzes bzw. der medizinischen CBRN-Versorgung auseinanderzusetzen – mit Fokus auf den zivilen Bereich, damals ein Novum.
CBRN-Schutz: Ein ganzes Bündel an Akteuren
Es sei beim Blick auf die nachfolgende Liste „fast schon erschlagend“ und gut ein Drittel der aufgeführten Akteure wisse gar nicht, dass sie in diesem Kontext relevant seien. Jürgen Schreiber legt in seinen Ausführungen den Fokus auf präventiven und reaktiven Schutz der Bevölkerung im Kontext von CBRN-Gefahren und kommt so auf eine Vielzahl an Beteiligten:
- Rettung und technische Gefahrenabwehr
- Akteure der klinischen Akut- und Expositionsversorgung
- Polizeiliche Gefahrenabwehr
- Pharmazeutische Einrichtungen und Logistik
- Forensik und Bestattungswesen
- Akteure in der technischen Entwicklung, Wartung und Betrieb
- Wissenschaft und Lehre
- Akteure der niedergelassenen gesundheitlichen Versorgung
- Öffentlicher Gesundheitsdienst
- Militärische Gefahrenabwehr
- Akteure aus den Kritischen Infrastrukturen
- Umweltschutz und Entsorgung
- Akteure in analytischen und diagnostischen Einrichtungen
- Regierungsverantwortliche
- die Bevölkerung
- …
Es ist ihm wichtig zu betonen, dass Überlegungen zum medizinischen CBRN-Schutz nicht nur militärische Szenare und Großschadenslagen betreffen, sondern vielmehr im Kleinen, ja alltäglichen Einsatz relevant werden, wenn chemische, biologische, radiologische oder nukleare Agenzien unkontrolliert freigesetzt werden.
Dann bestehe neben den Gefahren und Schädigungen, ausgehend von den freigesetzten Agenzien vor allem eine Gefahr der Kontaminationsverschleppung, die neben den exponierten Personen auch die Einsatzkräfte bedroht. In solchen Fällen, erst recht, wenn die Stofffreisetzungen zunächst nicht bemerkt wurden, rücke oft zunächst keine Spezialeinheit wie z. B. Gefahrguteinheiten der Feuerwehr an, sondern je nach Lage der Rettungsdienst, die Polizei und die Feuerwehr im Ersteinsatz.
Für CBRN-Einsätze ist der Rettungsdienst lediglich bedingt ausgestattet und meist nicht ausreichend qualifiziert, um in einem solchen Gefahrenbereich zu agieren. Es scheitere schon am Atemschutz, aber auch am Fehlen anderer spezifischer Sonderausrüstung, sagt Jürgen Schreiber:
„Da sprechen wir nicht einmal von einer Großlage. Es fängt ja schon im Kleinen an.“
Gleiches trifft bei Großlagen auch für die den Rettungsdienst unterstützenden Einheiten beispielsweise des Katastrophenschutzes zu. Einzig die Feuerwehren können im Gefahrenbereich tätig werden und exponierte Personen bis zum Abschluss deren Dekontamination vor Ort erstversorgen. Das müsse sich dringend ändern, fordert Jürgen Schreiber.
Das Narrativ der nicht ausreichend vorbereiteten und ausgestatteten Akteure lässt sich an der obigen Liste fortführen: So seien auch polizeiliche Kräfte jenseits der Spezialeinheiten nicht auf den Umgang mit CBRN-Lagen ausgerüstet und besonders trainiert.
Nicht nur die Kräfte der Gefahrenabwehr sind an der Bewältigung eines CBRN-Ereignisses maßgeblich beteiligt, sondern auch andere zuständige und hilfreiche Akteure. So finden sich zum Beispiel auch Forensik und Bestattungswesen in der Auflistung wieder, um schon am Ereignisort einer CBRN-Lage Ermittlungen durchzuführen und mit den ggf. kontaminierten Leichnamen von Verstorbenen angemessen ethischen Aspekten Rechnung tragend und rechtskonform umzugehen.
Es mangelt an vielen Stellen, wird in unserem Gespräch deutlich. Jürgen Schreiber verweist in Bezug auf die niedergelassene gesundheitliche Versorgung, die ebenfalls in der obigen Liste vermerkt ist, auf deren Schwierigkeiten, die Versorgung zu Beginn der Corona-Pandemie aufrecht zu erhalten – wiederum kein militärisches Szenar, aber eine Lage, die bestimmte Schwachstellen der medizinischen CBRN-Versorgungsstruktur in Deutschland deutlich vorgeführt hat.
Der Leuchtturm in der CBRN-Gefahrenabwehr
Neben der Feststellung, wo CBRN noch mangelhaft bedacht wird, weist Jürgen Schreiber deutlich darauf hin, dass die Bundeswehr im Kontext des ABC-Schutzes und der CBRN-Gefahrenabwehr sehr gut aufgestellt ist. Er betont jedoch, dass die Expertise dieser Kräfte nur im Friedensfall für den gesundheitlichen Bevölkerungsschutz zur Verfügung steht, da sie in Fällen der Bündnis- oder Landesverteidigung anderweitig eingebunden sind.
Die Lösung des zuvor beschriebenen Problems kann also nicht allein mithilfe Zivil-Militärischer Zusammenarbeit (ZMZ) gelöst werden – doch die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin (DGKM) stößt dafür schon bald einen ergänzenden Lösungsvorschlag an.
Netzwerk des gesundheitlichen CBRN-Schutzes Deutschland
Jürgen Schreiber schlägt vor, den gesundheitlichen CBRN-Schutz mithilfe der vier Dimensionen des Krisenmanagements zu betrachten: Vorbeugung, Vorbereitung, Reaktion, Nachbereitung. In diesem Sinne plant die DGKM die Etablierung eines Netzwerkes zum gesundheitlichen CBRN-Schutz für Deutschland. Dieses Netzwerk soll in deren zuständiger Arbeitsgemeinschaft unter gemeinsamer Leitung von Herrn Schreiber und OTA Prof. Dr. med. Dirk Steinritz koordiniert werden.
Idealerweise sollten alle Akteure aus der obigen Liste an diesem Netzwerk teilnehmen und mitwirken, denn es gehe um weit mehr als eine Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Kräften. Das große Ziel: Vernetzung und gemeinsames Lernen. „Eine Vernetzung muss nicht gleich etwas mit Gewinnorientierung und Forschungs- oder Entwicklungsthemen in konkreten Projekten zu tun haben. Ich glaube, dass Kennenlernen und ein Miteinander-Voneinander-Lernen viel wichtiger ist“, betont Jürgen Schreiber.
Er verfolgt dieses Vorhaben mit einer deutlichen Vision: „Stellen Sie sich mal vor, alle kennen die Notfallplanungen der unterschiedlichen Akteure, die wir für eine resiliente Gesellschaft brauchen, und wir schaffen es sogar, dass diese Pläne aufeinander abgestimmt sind. Wäre das nicht was? Genau dafür brauchen wir dieses Netzwerk, das im Januar an den Start gehen soll.“
Gemeinsam an einem Strang: Was ein Drahtseil mit gelingendem CBRN-Schutz zu tun hat
Es sei wie der Unterschied zwischen einem Tau, welches aus vielen Seelen im Innern besteht, und einem Strang aus einer einzelnen Seele. Eine einzelne Seele kann nur stabil und resilient sein, wenn sich seine Belastung in der Komfortzone befindet. Die heutige Zeit, in der wir uns befinden, sei allerdings keineswegs mehr die Komfortzone, meint Jürgen Schreiber.
Eine einzelne Seele, die durch ihre Komfortzone nach außen hin eine Isolierung wie einen Kunststoffmantel vorweist, sei zwar strapazierfähiger, aber könne wegen der isolierenden Hülle nicht mit anderen in Kontakt treten. Ein Drahtseil aus mehreren Seelen sei dagegen etwas ganz Anderes: Alle Teile sind umeinander gewoben, sie stützen einander, kontaktieren miteinander und so ist ein Tau, ein Drahtseil insgesamt deutlich tragfähiger und robuster – und eine eindeutige Metapher für das, was das Netzwerk des gesundheitlichen CBRN-Schutzes Deutschland werden soll.
Über die Kommunikation innerhalb des Netzwerkes hinaus sieht Jürgen Schreiber außerdem eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber:
„Menschen sind in Gefahrenlagen hilfsbedürftig, und mit dieser Hilfsbedürftigkeit verbinde ich auch einen Informationsbedarf.“
Die breite Bevölkerung muss verlässliche Informationen erhalten, um im Fall einer CBRN-Lage richtig handeln zu können und selbsthilfefähig zu sein. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) beispielsweise stelle zwar Schulungsprogramme und Broschüren zur Verfügung, diese seien allerdings nicht genug verbreitet und bekannt.
Es solle also auch eine zukünftige Aufgabe dieses Netzwerkes sein, möglichst abgestimmte, verständliche und einheitliche Informationen im Rahmen einer Risikokommunikation breiter zu streuen. Nur so könne man in Deutschland zu mehr Resilienz und Selbsthilfefähigkeit gelangen.
CP-Symposium 2025: Ein Forum für den medizinischen CBRN-Schutz
Auch Jürgen Schreiber nimmt in diesem Jahr erneut am Crisis Prevention-Symposium (kurz: CP-Symposium) teil und er freue sich schon sehr darauf, die Menschen verschiedenster Fachrichtungen wiederzutreffen. Er schätzt das CP-Symposium, da es einen Mittelpunkt der Kommunikation rund um den gesundheitlichen Bevölkerungsschutz darstellt.
Der wesentliche Punkt, der das CP-Symposium ausmache, ist seiner Ansicht nach die Weiterentwicklung, die von Jahr zu Jahr gemacht wird: „Ich lege sehr viel Wert darauf, die Vorträge der Kolleginnen und Kollegen zu hören, denn daraus ist jedes Jahr unglaublich viel mitzunehmen.“ Besonders betont er, dass das CP-Symposium geschafft habe, was von großer Bedeutung sei: „dass die zivile Seite mit der militärischen überhaupt mal in den Austausch kommt“.
Das diesjährige CP-Symposium findet am 15. und 16. Oktober 2025 im Steigerwaldstadion in Erfurt statt. Tickets sind hier erhältlich.
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