Ist die Feuerwehr München für die kommenden ­Herausforderungen gerüstet?

Interview mit Wolfgang Schäuble, Leiter der Branddirektion München. Das Interview führte André Luhmer, Chefredakteur der Crisis Prevention

HLF 20/16 in der Fahrzeughalle der Feuerwehr München
HLF 20/16 in der Fahrzeughalle der Feuerwehr München
Foto: André Luhmer

Crisis Prevention: Herr Schäuble, bitte erzählen Sie uns etwas zu Ihrer Person und zu Ihren Aufgaben.

Wolfgang Schäuble: Ich bin in Radolfzell am Bodensee geboren und aufgewachsen. Nach Studium und Referendariat hatte ich erste Verwendungen im Vorbeugenden Brandschutz und im Büro des Dienststellenleiters. Anschließend war ich als Abteilungs­leiter „Einsatz“ verantwortlich für die integrierte Leitstelle, die Einsatzplanung, den Betrieb der Feuerwachen und das Personal­wesen. Anfang 2005 wurde ich dann Dienststellenleiter.

Wolfgang Schäuble, Leiter der Branddirektion München
Wolfgang Schäuble, Leiter der Branddirektion München
Foto: CPM/André Luhmer

Wir haben insgesamt rund 2.200 MitarbeiterInnen und nochmals rund 1.300 Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr München. Die integrierte Leitstelle nimmt mehr als 1.000.000 Anrufe im Jahr entgegen Diese werden dann an alle Durchführenden im Rettungsdienst und die Feuerwehr verteilt. Dabei entstehen allein für die Feuerwehr über 90.000 Einsätze. Der größte Anteil dieser Einsätze wird durch unsere Notarztfahrzeuge bewältigt. Selbstverständlich sind wir auch für den Katastrophenschutz in der Landeshauptstadt München verantwortlich.

CP: Wie viele Feuerwachen betreiben Sie hauptamtlich in München?

WS: Derzeit zehn. Zwölf sind geplant und wir haben noch 21 Standorte der Freiwilligen Feuerwehr München.

CP: In Bezug auf das Ehrenamt: Freiwillige Feuerwehr, wie sieht es da mit dem Nachwuchs aus?

WS: Gut! Nach Corona hat die Freiwillige Feuerwehr München einen erheblichen Zugewinn von fast 200 Personen gehabt. Und das sind relativ junge Neumitglieder. Die machen eine gute Arbeit und so haben wir glücklicherweise kein Problem.

CP: Welche Herausforderungen sehen Sie angesichts einer angespannten Sicherheitslage im Bevölkerungsschutz und aber auch für den alltäglichen Dienst in München?

WS: Wir haben uns zeitgerecht mit dem Bevölkerungsschutz befasst. Das war vor allem auch der Wille des Stadtrates, der zum Start des Ukraine-Krieges die Frage stellte, wie München in der neuen Bedrohungslage aufgestellt ist.

Wir mussten leider antworten, dass alles aus den Zeiten des Kalten Krieges zurückgebaut wurde und dass es keinen Bereich mehr gibt, der sich um eine Bedrohungslage dieser Art kümmert. Erfreulicherweise hat der Stadtrat sofort reagiert, so dass dann eine Unterabteilung Bevölkerungsschutz mit insgesamt 16 Personen neu geschaffen werden konnte. Bevölkerungsschutz wird nach neuer Lesart im kombinierten Sinne des Zivil- und Kata­strophenschutzes verstanden.

Jetzt müssen wir mal schauen, wie sich das Spannungsverhältnis, und zwar nicht das weltpolitische, sondern das zwischen Bund und Ländern auflöst. Hier ist man sich immer noch nicht einig, wie der Zivil- und Bevölkerungsschutz unter der neuen Bedrohungslage aussehen soll. Das ist natürlich für die konkrete Arbeit vor Ort schwierig. Allein Bayern hat 96 Kreisverwaltungsbehörden und es ist jetzt nicht gerade der letzte Schrei, wenn mangels einheitlicher Schutzdefinition jede für sich plant, organisiert und beschafft und das dann in allen Land- und Stadtkreisen in Deutschland so geschieht.

Als Beispiel kann man die Warnung der Bevölkerung nehmen. Da sind in den letzten Jahren, ich sage Jahrzehnten, die Aussagen immer wieder geändert worden. Einmal war DCF77 das Mittel der zukünftigen Warnung. Ich weiß, dass ich irgendwo noch eine Armbanduhr, die auch als Warngerät funktionierte, liegen habe. Das BBK (Anm. d. Red.: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) hatte damals alarmierbare Uhren und Radios als Testgeräte verteilt. Die sind über das DCFZZ Funksignal angesteuert worden. Das hatte funktioniert, wurde nicht weiterverfolgt.

Dann die Digitalisierung und damit die Smartphone-Apps, z.B. Nina und Katwarn. Mittlerweile werden Sirenen wieder als ­Mittel der Wahl propagiert. Aber eine klare Strategie lässt sich nicht erkennen. Viele Fragen bleiben offen. Macht eine flächendeckende akustische Warnung im öffentlichen Raum noch Sinn? Ist das nachts z. B. in Hochhaussiedlungen zielgerichtet möglich? Die Voraussetzungen auch für Sirenenwarnungen haben sich seit den 1960iger Jahren zum Teil massiv geändert. Vor allem die städtebaulichen Voraussetzungen. Wie ist also ein modernes Warnkonzept aufzubauen? Sämtliche Expertise wurde Zug um Zug nach dem kalten Krieg abgebaut und muss nun mühsam wieder aufgebaut werden.

Ein weiteres Thema ist die Resilienz der Bevölkerung, auch die muss man neu denken. Hinweisblätter z.B. zur Bevorratung sind in modernen Wohnungen kaum umsetzbar. Wie soll das in einem Hochhaus, in dem 500 Leute wohnen, überhaupt logistisch funktionieren, wenn 500 Personen für 14 Tage Trinkwasser Nudeln, Mehl Behelfskocher usw. vorhalten sollen? Dazu muss die halbe Tiefgarage als Lagerfläche verwendet werden. Also müssen die früheren Konzepte, die sicherlich ihre Berechtigung in der damaligen Zeit hatten, adaptiert werden.

Da kann man natürlich sagen, bevor wir nichts haben, haben wir das. Aber es funktioniert nun mal nur in kleinen Teilen. Und nachdem sich Bund und Länder derzeit damit begnügen sich groß anzuschauen, und wenn überhaupt sehr zögerlich Ressourcen in die Hand nehmen, bleibt es kompliziert, denn die Kreisverwaltungsbehörden sind das Ende der Nahrungskette und nicht ihr Anfang. Das ist derzeit nicht ganz glücklich.

DLK in der Fahrzeughalle der Münchner Feuerwehr
DLK in der Fahrzeughalle der Münchner Feuerwehr

CP: Um mehr Praxisnähe für die Bevölkerung hinzubekommen, was würden Sie dem BBK raten?

WS: Politisch müsste schnell Klarheit her, was prioritär anzupacken ist. Der Punkt ist anzufangen und nicht sich zu Tode planen. Stop starting, start finishing.

Die allgemeine Arbeitswelt hat sich angewöhnt, alles bis ins letzte Detail und unter Abwägung aller Gesichtspunkte in einen Plan zu gießen und diesen mehrfach zu optimieren. Erst nach diesen Optimierungsschleifen wird dieser Plan in die Realität überführt. Unsere Planungsprozesse gehen gefühlt unendlich. Und da wäre es doch sinnvoll einfach aus der Erfahrung der letzten Jahre ein Startniveau festzulegen. Als Beispiel: Wir wollen 1 % der Einwohner eines jeden Stadt- und Landkreises als ­Evakuierungsgröße festlegen. 1 % in München bedeuten 15.000 Personen.

Für diese legt man dann fest, dass Unterkunft und Verpflegung für eine Woche zur Verfügung stehen müssen. Das ist realistisch umsetzbar. Wir haben auch heute schon bei einer Bombenentschärfung ähnliche Größenordnungen zu evakuieren. Auch in Hochwasserkatastrophen und Flüchtlingswellen könnte das jeder Landkreis hinbekommen – oder musste es schon hinbekommen – 1.500 Menschen unterzubringen. Wenn das jeder Landkreis macht und die zugehörigen Regierungsbezirke nochmals 1% als Sonderbevorratung zentral aufbauen, wird durch übliche Methoden der gegenseitigen Hilfe ein immenses Potenzial geschaffen.

Genau in diesen Planungsprozessen fehlt mir der pragmatische Zug oder auch die Entscheidungsfreude. Ob man jetzt für 0,8 % oder 1,5 % oder 1,8 % plant, ist bei diesen Schadensereignissen praktisch doch völlig unbedeutend. Es ist dabei auch egal, welches Risikopotenzial ich in seitenlangen Tabellen identifiziere. Fakt ist, egal was passiert, ich muss Menschen unterbringen, die keinen eigenen Wohnraum mehr haben.

ELW der Münchner Feuerwehr
ELW der Münchner Feuerwehr

Ich bin davon überzeugt, wenn man sich so pragmatisch nähert, wäre für vieles schnell gesorgt. Es ist auch nicht so, dass die Bevölkerung grundsätzlich in Notsituationen Unverständnis hat. Das konnten wir in allen Schadenslagen oder Krisen der letzten Jahre sehen.

Wir müssen irgendwann mal aus diesem gewohnten Perfektionismus aussteigen. Im Moment hat man das Gefühl, das dieser Perfektionismus in genauer Erhebung und Planung gewollt ist. Denn, solange ich erhebe und plane, muss ich keine Festlegungen treffen, alles ist im Fluss und damit kann ich ja leider auch noch keine Umsetzung veranlassen. Denn, es gibt ja noch so viel zu bedenken, um optimal vorbereitet zu sein. Es geht aber nicht um das optimal vorbereitet Sein, sondern um das überhaupt vorbereitet Sein. Und ich glaube, dass wir uns gerade hier selbst im Weg stehen.

Und folgerichtig ist die Bitte an die Politik, es so anzugehen und zu vermitteln. Ich glaube, dass die Gesellschaft das verträgt, dass man in gewissen Situationen Wasser drei Tage nur an einer gewissen Stelle bekommt. Das Problem alles perfekt lösen zu wollen, erfordert dann auch die benötigten Investitionssummen. Je perfekter und größer, desto mehr Zeit und Geld zur Umsetzung sind erforderlich. Bis die letzten mit einer Beschaffung versorgt sind, muss bei denjenigen, bei denen zuerst geliefert wurde schon wieder begonnen werden, weil das Material nicht mehr brauchbar ist. Das kennen wir zur Genüge aus den Bundeszuweisungen der KatS-Fahrzeuge.

CP: Also können wir festhalten, alles ein bisschen kleiner, dafür zügiger beschaffen und auch die Planungen an die Realität auslegen und die Bevölkerung ruhig in die Verantwortung nehmen und für ein paar Tage auch eine gewisse Belastung übertragen.

WS: Ja, die Bevölkerung kann schon etwas vertragen. Sie muss im Zweifel diese Belastungen sowieso tragen. Es ist manchmal auch gar nicht anders möglich, dass sie die Belastung trägt. Man kann in einem Hochwassergebiet nicht immer alles sofort bereit haben, dafür herrscht auch Verständnis. Die Krise in ihrer Hochphase aushalten, das geht. Aber dann wieder zur Normalität zurückzukommen, auch das muss schneller werden. Denn Provisorien lassen sich nur bedingt jahrelang aushalten. Also diese Mechanismen mit Geschwindigkeit zu versehen, das wäre sinnvoll.

RTW der Münchner Feuerwehr
RTW der Münchner Feuerwehr
Foto: CPM/André Luhmer

CP: In dem Zusammenhang wären auch die politisch-adminis­trativen Stäbe mit der Kommunalverwaltung, aber natürlich auch mit dem Land und möglicherweise auch mit einem Lagezentrum Bund, interessant. Gibt es da Planentscheidungen für Großschadenslagen oder sehen Sie primär vor allem die Kommune in der Verantwortung?

WS: Wir haben hier in München seit 2016 sehr intensiv diese sogenannten politisch-administrativen Stäbe geformt. Ab 2014 wurde die Notwendigkeit mit der großen Flüchtlingswelle aus Nahost immer deutlicher. Diese hat dann 2016 mit den Flüchtlingen über die Balkanroute einen Höhepunkt erreicht. Das entspricht jedes Wochenende allein hier in München einer Kleinstadt mit 30.000 Menschen. Da hat man schon begonnen sich mit Stäben sehr intensiv auseinanderzusetzen, die eben keine Blaulichtstäbe sind.

Im Fortgang hat man diese Weiterentwicklung vorangetrieben. Mittlerweile haben wir ein sehr gutes Verwaltungsstabssystem. Die Leitung des Verwaltungsstabes im Sinne der Stabsorganisation und des Stabsbetriebes hat die Feuerwehr. Der Entscheider ist der Oberbürgermeister und die Mitglieder sind natürlich nicht von der Feuerwehr, sondern kommen aus den erforderlichen Fachbereichen der Verwaltung.

Je nach Ursache der Krise ist die fachliche Zusammensetzung unterschiedlich. Wir hatten vor kurzem die Flüchtlingskrise infolge des Ukrainekriegs, in der auch viele Flüchtende über die Ungarnroute in München angekommen sind. Da ist es natürlich, dass in diesem politisch-administrativen Krisenstab das Sozialreferat eine große Rolle spielt. Bei Corona war es eben das Gesundheitsreferat.

Die Feuerwehr ist das Gerippe des Stabes. Sie weiß, wie ein Stab funktioniert, sie hat die Methodenkompetenz. Das ist mittlerweile sehr gut eingespielt. Sprich, wenn sich eine Krisenlage abzeichnet, wird die Organisation entsprechend aufgebaut und die Besetzung festgelegt. Das war vor kurzem auch bei der drohenden Energiemangellage so und seitens des Oberbürgermeisters die gewünschte Form. Aber wir haben auch unsere Erfahrungen im operativ-taktischen Bereich gemacht.

Wenn die klassische Gefahrenabwehr operativ-taktische Stäbe benötigt, so braucht es diese auch in den allgemeinen Lagen. Also auch in einer Flüchtlingskrise braucht es einen operativen Stab, in dem fachliche Ressourcen zur schnellen Reaktionsfähigkeit gebündelt werden. Zum Beispiel organisiert das Sozialreferat im Tagesgeschäft schon Unterbringung und Betrieb von Unterkünften aller Art. Dort ist das Wissen gesammelt, allerdings ist eine normale Aufbauorganisation kaum für Krisenbewältigung geschaffen. Daher sind auch dort operativ-taktische Stäbe zusätzlich abzubilden.

In der Anfangsphase unterfüttert die Feuerwehr diese Stäbe hinsichtlich des Aufbaus und zieht sich aber auch danach wieder zurück. Es geht um das Verständnis, dass jetzt ein ganz spezielles Projekt vorliegt, dass eine ganz eigene Art von Projektstruktur erfordert. Was wir dabei auch gelernt haben: es macht überhaupt keinen Sinn nur weil es Stab heißt sich, sich mit der Feuerwehrdienstvorschrift 100 auf alles zu stürzen und zu formen.

PSA griffbereit für den Einsatz
Foto: CPM/André Luhmer

CP: Ein Vorbild sicherlich auch für andere Städte und Gemeinden, denn ihnen obliegt dann die Leitung des Stabes. Legt die Politik, in dem Fall der Oberbürgermeister, das in ihre Hände?

WS: Das ist korrekt. Die Organisation des Stabes, die Stabssitzungen, die zugehörigen Festlegungen und insbesondere die Inhalte eines spezifischen Lagebildes liegen hier bei der Branddirektion. Wie gesagt, wenn man dann die operativ-taktischen Stäbe in den Fachressorts generiert, dann hat man, glaube ich, ein ganz gutes System, das schnelle zielgerichtete Reaktionen ermöglicht.

Krisensituationen zeichnen sich dadurch aus, dass die klassischen dafür vorgesehenen Standardstrukturen einfach überlaufen werden und logischerweise damit keine Antworten mehr vorhanden sind. Das ist wiederum nicht Schuld dieser Organisationseinheiten, denn sie sind nur für das Tagesgeschäft ausgelegt. Diese Umstellung in einen operativ-taktischen Stab im Sozialreferat hat dann ermöglicht, großflächige und kurzfristige Notunterkünfte bereit zu stellen, längerfristige Standorte zu akquirieren und dann Strukturen zu schaffen, die sich jetzt regulär in den ursprünglichen Organisationseinheiten wiederfinden.

Man hat also die normale Organisation im Sozialreferat oder Gesundheitsreferat ertüchtigt und auf das neue Level des Tagesgeschäftes angepasst. Die Ursachen bzw. Folgen von Krisen verschwinden schließlich nicht. So kommen zum Beispiel immer noch 50 ukrainische Menschen pro Woche in München an und Corona muss nach wie vor monitored werden. Auch das ist Teil der Krisenbewältigung, der Umbau zurück in den angepassten Regelbetrieb. Das ist, denke ich, das Entscheidende. Wie arbeitet diese sehr hochdiversifizierte, hochleistungsfähige und spezialisierte Verwaltung in solchen Ausnahmefällen zusammen.

Sehr geehrter Herr Schäuble, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Erstmals erschienen in: Crisis Prevention 4/2024

Beitrag teilen

Das könnte Sie auch interessieren

Anzeige

Verwendete Schlagwörter

BerufsfeuerwehrFeuerwehr
Index