Die Lageerkundung umfasst sowohl die direkte, vor Ort durchgeführte Beobachtung und Dokumentation der Situation durch Einsatzkräfte, als auch die Auswertung von Fernmessdaten (z.B. Satellitenbildern, Drohnenaufnahmen) und Informationen aus sensorgestützten Systemen. Ziel ist es, ein möglichst präzises und zeitnahes Lagebild zu schaffen, das sowohl den Einsatzkräften vor Ort als auch den Akteuren im Stabsraum eine schnelle und fundierte Entscheidungsfindung ermöglicht und eine koordinierte Reaktion auf Extremwetterereignisse sicherstellt.
1. Hintergrund und Zielsetzung
Im Januar 2023 begann das europäische Projekt „Critical Action Planning over Extreme-Scale Data“ (Akronym: CREXDATA). Das zentrale Ziel von CREXDATA ist die Entwicklung einer universell einsetzbaren, datengetriebenen Plattform, die BOS bei der Bewältigung komplexer Krisenlagen unterstützt. Die Plattform ist so konzipiert, dass sie flexibel an unterschiedliche Einsatzkontexte angepasst werden kann und eine zuverlässige technische Basis für den Umgang mit umfangreichen, dynamischen und heterogenen Datenbeständen bietet. Im Fokus stehen dabei sowohl die Integration verschiedenartiger Datenquellen als auch deren bedarfsgerechte Aufbereitung für unterschiedliche Rollen im Entscheidungsprozess – von operativen Einheiten bis hin zu taktisch agierenden Führungsebenen.
Zentrales technisches Konzept von CREXDATA ist der Ansatz eines „Prediction-as-a-Service“ (PaaS), eines digitalen Vorhersagedienstes, der es ermöglicht, aus der Analyse aktueller Datenlagen fundierte Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen abzuleiten. Mittels Methoden der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens sollen aus unterschiedlichen Datenströmen, u.a. Umwelt- und Sensordaten, Textinformationen oder Geodaten, Muster erkannt, Prognosen erstellt und Entscheidungsspielräume sichtbar gemacht werden. Auf diese Weise schafft die Plattform eine belastbare Grundlage für zeitkritische, vorausschauende und koordinierte Reaktionen auf dynamische Lagen.
2. Anwendungsfälle von CREXDATA
CREXDATA wird im Rahmen von drei Anwendungsfällen evaluiert:
2.1 Anwendungsfall „Maritim: Gefahrenvorhersage und Routenoptimierung“
Das Ziel hier ist, durch CREXDATA die Vorhersage von Gefahren und die Routen zu optimieren, um rechtzeitig präventive Maßnahmen ergreifen und gefährliche Situationen, wie bspw. Grundberührungen und Schiffskollisionen, vermeiden zu können. Das PaaS von CREXDATA greift dabei in Echtzeit auf die Daten des Schiffs zu und kombiniert diese mit globalen Datenquellen (z.B. Wettersysteme). Dadurch können digitale Zwillinge (digitale Nachbildungen von Schiffen in Echtzeit) erstellt und Routenprognosen durchgeführt werden.
2.2 Anwendungsfall „Gesundheitskrisen: Optimierung der Krisenbewältigung“
Das Hauptziel dieses Anwendungsfalls ist es, durch präzise Vorhersagen und Simulationen von Krankheitsverläufen und Behandlungen eine fundierte Entscheidungsfindung zu ermöglichen und so die Krisenbewältigung zu optimieren. Neben der Entwicklung von Modellen, die digitale Zwillinge der Virusverbreitung in der Bevölkerung erstellen, um Ausbreitungstendenzen vorherzusagen und die am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen zu identifizieren, wird ein weiteres Modell verwendet, das die Interaktionen des Virus im Körper simuliert, um die besten Therapieansätze zu ermitteln und so die Patientenbehandlung zu optimieren.
2.3 Anwendungsfall „Extremwetter: Unterstützung der Entscheidungsfindung“
Im Anwendungsfall Extremwetter wird das Ziel verfolgt, Entscheidungsprozesse in Extremsituationen durch die Bereitstellung von umfassenden, kontextbezogenen Lageinformationen zu unterstützen. Dabei liegt der Fokus auf der Entscheidungsunterstützung, indem Echtzeitdaten zu Wetterereignissen, geospatialen Informationen und potenziellen Risiken miteinander verknüpft werden, um eine fundierte und schnelle Lagebewertung zu ermöglichen. CREXDATA liefert nicht nur aktuelle Informationen, sondern auch Vorhersagen und Szenarien, die als Grundlage für proaktive und reaktive Entscheidungen in der Krisenbewältigung dienen können und die es den BOS ermöglicht, gezielte Maßnahmen zu ergreifen und so die Auswirkungen von Extremwetterereignissen zu minimieren.
Der Anwendungsfall stellt dabei zwei Szenarien in den Fokus:
1.) Waldbrände: hier besteht häufig ein Mangel an frühzeitigen, präzisen Informationen zu Dürrebedingungen sowie zur Ausbreitung des Feuers und Echtzeitdaten, die eine schnelle und zielgerichtete Reaktion ermöglichen würden. Die Überwachung schwer zugänglicher Brandgebiete sowie die präzise Vorhersage des Brandverlaufs stellen dabei erhebliche Herausforderungen dar.
2.) Hochwasser: hier wird es oftmals schwierig, schnell und präzise die Flusspegel sowie die betroffenen Gebiete zu bewerten. Die dynamischen Auswirkungen von bspw. Überschwemmungen in Echtzeit zu überwachen, ist problematisch. Fehlen präzise, verlässliche und zeitaktuelle Daten, wird die Koordination und Planung von Maßnahmen zur Bewältigung des Ereignisses erheblich erschwert.
Folgend werden die im CREXDATA entwickelten Technologien mit Fokus auf den zweiten Anwendungsfall (Hochwasser) vorgestellt, da dieser den Schwerpunkt der Feuerwehr Dortmund innerhalb des Forschungsprojektes darstellt.
3. Technologien im Projekt
3.1 ARGOS
Um die Menge an Daten und die in CREXDATA entwickelten Technologien im Anwendungsfall der Extremwetterereignisse in einer Plattform nutzbar zu machen, wird als Ausgangspunkt das Lageinformationssystem ARGOS aus dem EU-Projekt ANYWHERE verwendet. Mit der ARGOS-Plattform steht ein Geo-Informations-System (GIS) zur Verfügung, welches für die Visualisierung von meteorologischen Daten ausgelegt ist und diverse Informationen in mannigfaltigen Layern bündelt, die über einer topographischen Karte ein- und ausgeblendet werden können.
Die Funktionalität ermöglicht es, den Output der im Projekt entwickelten Technologien (s.u.), sowie andere lagespezifisch relevante Daten auf einer zentralen Karte zu visualisieren. Dadurch können Nutzer, wie bspw. BOS, den Output als vernetztes Gesamtsystem betrachten und die gewonnenen Informationen miteinander verknüpfen.
3.2 KI-gestützte Hochwassersimulation
Um Überschwemmungen zu ermitteln, wird derzeit mit verschiedenen Datenquellen (z.B. Pegelwarnungen, historischen Wetterdaten, statischen Starkregengefahrenkarten) gearbeitet. Zwar bieten Satellitenaufnahmen und Wetterprognosen dabei wertvolle Hinweise auf potenzielle Tendenzen, die auf ein Hochwasserereignis hindeuten könnten, ohne eine präzise Vor-Ort-Erfassung ist die genaue Bestimmung des Pegelstands allerdings schwierig. In diesem Zusammenhang kommen die in CREXDATA entwickelten Technologien zum Einsatz. Bspw. wird eine KI-gestützte Hochwassersimulation (DeepWaive) verwendet, um potenzielle Hochwasserereignisse detailliert zu analysieren – unter Berücksichtigung von Faktoren wie Niederschlag, Geländetopografie und Bodenbeschaffenheit.
Diese Simulation ermöglicht es auch, Schutzmaßnahmen wie Sandsäcke oder mobile Barrieren virtuell zu testen, um ihre Auswirkungen auf die Fließrichtung und -intensität des Wassers im Vorfeld zu bewerten. Die Besonderheit von DeepWaive liegt darin, dass es Simulationen in nahezu Echtzeit erstellt. In der Praxis können auch unvorhergesehene Ereignisse, wie der Bruch eines Damms, nicht immer in klassischen Modellen berücksichtigt werden, da diese Ereignisse in ihrer spezifischen Kombination von Zeit, Ort und weiteren Parametern nicht immer im Voraus simulierbar sind.
Die dynamischen Ergebnisse dieser Simulationen und deren Auswirkungen auf die Überschwemmung werden dann in ARGOS visualisiert und bereitgestellt. Dadurch können die BOS ihre Strategien kontinuierlich anpassen und optimieren, um Schäden zu minimieren und gefährdete Gebiete zu schützen.
3.3 Echtzeit Textanalyse sozialer Medien
Die Analyse von mehrsprachigen sozialen Medien-Daten ermöglicht es, in Echtzeit Hinweise auf Ereignisse wie Hochwasserlagen zu erhalten. Relevante Posts werden automatisch georeferenziert und in der ARGOS-Karte angezeigt. Diese Karte zeigt die Daten an, die aus sozialen Medien extrahiert wurden. Dadurch können Einsatzkräfte und Entscheidungsträger unmittelbar auf wichtige, lokal und zeitnah verbreitete Informationen zugreifen, die sie bei der Einschätzung der Lage und der Planung von Maßnahmen unterstützen.
3.4 Augmented Reality (AR)
AR-Technologien ermöglichen die Darstellung komplexer Daten in einer immersiven Umgebung, indem computergenerierte Inhalte in die reale Welt eingeblendet werden. Einsatzkräfte können mittels AR-Brillen in Echtzeit auf dynamische Lagekarten zugreifen, die traditionelle Visualisierungen sowie 3D-Simulationen enthalten. Dies unterstützt schnelle Entscheidungen unter extremen Bedingungen, etwa zur Evakuierung betroffener Gebiete, zur Identifikation von Gefahrenquellen oder zur Planung alternativer Routen. Die Integration von 3D-Simulationen und virtuellen Wasserständen in die AR-Umgebung erleichtert die Orientierung in der aktuellen Lage und verbessert die Reaktionsfähigkeit gegenüber sich rasch ändernden Hochwassersituationen. So wird das situative Bewusstsein deutlich gesteigert und eine gezieltere Bekämpfung sowie Eindämmung von Überschwemmungen ermöglicht.
Die kontinuierlich aktualisierten Informationen passen sich dynamisch an die jeweilige Lage an, sodass stets die neuesten Daten zur Verfügung stehen. Virtuelle Wasserstände, Strömungen und deren Veränderungen, wichtige Punkte (POI – Points of Interest), deren Entfernung zum Standort der Einsatzkraft sowie eine Navigationskarte können angezeigt oder sogar individuell markiert werden. Darüber hinaus lassen sich weitere relevante Informationen, wie Live-Aufnahmen von boden- und luftgebundenen Systemen separat im Sichtfeld der AR-Brille darstellen.
4. Ausblick
Die Integration der in CREXDATA entwickelten Technologien in ein Gesamtsystem zur Lagedarstellung und -vorhersage verspricht eine signifikante Optimierung des Lagebewusstseins in Hochwassersituationen.
Durch die im Rahmen des Projekts entwickelten Lösungen erhalten Einsatzkräfte eine fundierte, zeitnahe und datengestützte Informationsbasis. Diese ermöglicht es, frühzeitig auf Hochwasser zu reagieren. Die Prognosen lassen sich lokal und regional präzise anpassen, wodurch eine gezielte Planung sowie die effiziente Verteilung von Ressourcen erleichtert wird. Im Ernstfall können somit schnell entscheidende Informationen zu Wasserständen, betroffenen Gebieten oder potenziellen Gefahrenquellen ermittelt werden.
Ein wesentlicher Vorteil von CREXDATA liegt in der Möglichkeit zur Echtzeitüberwachung und kontinuierlicher Datenanalyse. Diese wird durch mobile Roboterplattformen wie Drohnen und bodengebundene Fahrzeuge ergänzt, die aktuelle Bilddaten aus den betroffenen Gebieten liefern. Für Einsatzkräfte bedeutet dies eine deutlich verbesserte Lageeinschätzung sowie die flexible und dynamische Anpassung von Einsatzstrategien. So können die Auswirkungen von Extremwetterereignissen unmittelbar überwacht und notwendige Maßnahmen schnell und gezielt eingeleitet werden.
Die Praxistauglichkeit der entwickelten Technologien wird in reproduzierbaren Testszenarien überprüft, die an drei Standorten durchgeführt werden: Dortmund, Innsbruck und Helsinki. Diese Tests werden in kontrollierten Umgebungen durchgeführt, wobei die Praxistauglichkeit des Systems durch BOS bewertet wird.
Autoren: Dr. Sylvia Pratzler-Wanczura und Enes Derin
Erstmals erschienen in: Crisis Prevention 2/2025
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