Entwicklung einer bereichsspezifischen und kompetenzorientierten Bevölkerungsschutzdidaktik

In einem zweijährigen Forschungsprojekt beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe an der MSH Medical School Hamburg mit der Frage, wie Aus-, Fort- und Weiterbildungen im Bevölkerungsschutz aus einer erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Perspektive weiterentwickelt werden können. Basierend auf theoretischen Überlegungen, Literaturrecherchen, Interviews mit Expertinnen und Experten, Workshops mit Lehrkräften und einer umfangreichen empirischen Datenerhebung soll ein didaktisches Rahmenmodell entstehen, das in sämtlichen Handlungsfeldern des Bevölkerungsschutzes eine hilfreiche Orientierung bietet.

Bevölkerungsschutzdidaktik. Verletztensammelstelle
Verletztensammelstelle
Foto: Harald Karutz

Lehren und Lernen im Bevölkerungsschutz

Bis vor wenigen Jahren sind Erkenntnisse aus der Erziehungs- und Bildungswissenschaft im Bevölkerungsschutzsystem weitgehend unbeachtet geblieben; erst in der jüngeren Vergangenheit zeichnen sich deutliche Ansätze einer pädagogischen Professionalisierung ab. Beispielsweise wird Unterricht zunehmend kompetenzorientiert gestaltet: Demnach geht es nicht nur darum, dass jemand möglichst viel weiß – sondern dass er in Einsatzsituationen umsichtig und adäquat handeln kann. Mehr und mehr wird darauf geachtet, aktivierende Methoden einzusetzen und nicht nur Power-Point-Vorträge zu halten. Darüber hinaus setzt sich die Erkenntnis durch, dass Lehrkräfte nicht nur in Unterrichtsräumen vor einer Lerngruppe stehen und referieren, sondern auch langfristige Partner, Begleiter und Berater von Lernenden in der Praxis sind.

Dennoch sieht die pädagogische Praxis im Bevölkerungsschutz längst noch nicht überall so aus, wie es wünschenswert wäre. Beispielsweise wurden neue Lehrpläne und Unterrichtskonzepte zwar erkennbar kompetenzorientiert verfasst – die notwendige Anpassung der Lehrkräftequalifikationen wurde mitunter jedoch außer Acht gelassen. Teilweise liegen sehr moderne und attraktive Lehr- und Lernmaterialien vor – und doch wird an tradierten, veralteten Unterrichtsmethoden festgehalten: „So haben wir das immer gemacht, und so bleibt es bei uns auch.“

Unterschiedliche Lehrende

Tatsächlich unterrichten im Bevölkerungsschutz ganz unterschiedliche Dozentinnen und Dozenten: Manche Lehrkräfte verfügen über formelle „Lehrberechtigungen“, die sie beispielsweise im Rahmen anderer Aus-, Fort- und Weiterbildungen für den Bevölkerungsschutz erworben haben. Einige haben sich selbständig im pädagogischen Bereich fortgebildet oder sogar ein entsprechendes Studium absolviert. Nicht wenige übernehmen die wichtige Aufgabe, ihre Kameradinnen und Kameraden zu unterrichten, aber auch „einfach so“.

Mit dieser Feststellung ist keineswegs verbunden, dass der Unterricht von Lehrkräften ohne eine formelle pädagogische Qualifikation schlecht sein muss! Die Beachtung einfacher Grundsätze der Unterrichtsgestaltung ist aber auf jeden Fall wichtig und wünschenswert, zumal letztlich erwartet wird, dass sämtliche Einsatzkräfte stets bestens ausgebildet sind, jederzeit hoch professionell agieren und möglichst alles sicher beherrschen, was für die Bewältigung von Einsatzszenarien notwendig ist.

Aktuelle Erfahrungen

Ganz aktuell haben langfristig anhaltende und großflächige Krisen- und Katastrophenereignisse – beispielsweise die Coronavirus-Pandemie sowie die Flutkatastrophe 2021 – einmal mehr deutlich gemacht, wie wichtig angemessene Qualifizierungsmaßnahmen und eine professionelle Begleitung von Kompetenzentwicklungsprozessen sind: Nicht immer und nicht überall wurde – diplomatisch formuliert – optimal gehandelt. Insbesondere die Handlungskompetenzen von Krisenstabsmitgliedern scheinen optimierungsbedürftig zu sein. Der Teilnahme an realitätsnahen Simulationstrainings und Übungen, aber auch der realistischen Einschätzung von persönlichen Ressourcen, Limitationen und Defiziten kommt hierbei eine herausragende Bedeutung zu.

Projektziele

Mit dem Forschungsprojekt „Entwicklung einer bereichsspezifischen, kompetenzorientierten Bevölkerungsschutzdidaktik“ sollen daher v. a. Lehrkräfte im Bevölkerungsschutz unterstützt werden, Bildungsprozesse kompetenzorientiert und möglichst nachhaltig wirksam zu gestalten. Darüber hinaus soll das Projekt – wie es aktuell ja auch von der Bundesregierung gewünscht und gefordert wird – einen Beitrag dazu leisten, die gesellschaftliche Resilienz zu erhöhen: Bildung ist immer auch Krisen- und Katastrophenvorsorge, so dass verbesserte Bildungsangebote ebenfalls eine verbesserte Vorbeugung, Vorbereitung und Bewältigungsfähigkeit aller involvierten Akteurinnen und Akteure zur Folge haben.

Organisationsübergreifende Zusammenarbeit in komplexen Einsatzlagen muss ebenso trainiert werden wie die effektive Nutzung moderner Technik
Organisationsübergreifende Zusammenarbeit in komplexen Einsatzlagen muss ebenso trainiert werden wie die effektive Nutzung moderner Technik

Im Ergebnis wird ein didaktisches Rahmenmodell vorgelegt, aus dem sowohl zu methodischen und didaktischen als auch zu bildungsorganisatorischen Aspekten konkrete Handlungsempfeh-lungen abgeleitet werden können.

Damit nun aber keine „Feiertagsdidaktik“ entsteht, wurden und werden Vertreterinnen und Vertreter von verschiedenen Einsatzorganisationen unmittelbar in das Projekt einbezogen: Besonderer Wert wird daraufgelegt, Wissenschaft und Praxis eng miteinander zu verknüpfen und Praktikern eine ganz konkrete Partizipation zu ermöglichen. So fanden u. a. 29 Interviews mit Expertinnen und Experten aus Einsatzorganisationen statt, und es wurden insgesamt drei Workshops mit Lehrkräften veranstaltet, um über Teilergebnisse des Projektes zu diskutieren und diese gemeinsam weiterzuentwickeln.

Nicht zuletzt wurde eine Onlinebefragung von Einsatzkräften durchgeführt, um ihre Wünsche, Bedarfe und Bedürfnisse hinsichtlich der Gestaltung zukünftiger Bildungsprozesse im Bevölkerungsschutzsystem berücksichtigen zu können. 1461 Personen aus sämtlichen Einsatzorganisationen haben daran teilgenommen.

Arbeitspakete

Im Einzelnen wurden im Forschungsprojekt neun Arbeitspakete definiert (s. nachstehende Tabelle). Einzelne Detailfragen werden darüber hinaus in ergänzenden Studienprojekten untersucht, so z. B. die Frage, wie informelle Lernprozesse in Einsatzorganisationen besser begleitet werden können als bisher und ob – angelehnt an die berufliche Bildung von Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern – die Etablierung einer pädagogischen Praxisbegleitung womöglich auch im Bevölkerungsschutz sinnvoll sein könnte.

Einzelne Arbeitspakete
  1. Auswertung und systematische Zusammenfassung der Fachliteratur
  2. Analyse der spezifischen fachlichen Erfordernisse im Bevölkerungsschutzsystem
  3. Analyse einzelner Zielgruppen im Bevölkerungsschutz
  4. Analyse der im Bevölkerungsschutz erforderlichen Kompetenzen
  5. Analyse besonderer Rahmenbedingungen des Bevölkerungsschutzes
  6. Erarbeitung eines zeitgemäßen Verständnisses von Bildung und Ausbildung im Bevölkerungsschutz
  7. Erarbeitung von Leitlinien zur Digitalisierung einzelner Aspekte der Bevölkerungsschutzpädagogik
  8. Konzeption eines didaktischen Rahmenmodells für die Bevölkerungsschutzpädagogik
  9. Erarbeitung des Projektberichtes Projektverlauf und bereits gewonnene Erkenntnisse

In verschiedenen wissenschaftlichen Datenbanken sowie der Fachinformationsstelle des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe wurde zunächst nach relevanten Publikationen recherchiert; insgesamt wurden 284 Veröffentlichungen für das Forschungsprojekt herangezogen. Gezeigt hat sich dabei, dass bereits zahlreiche sehr fundiert begründete Konzepte für pädagogisches Handeln im gesamten Bevölkerungsschutzsystem verfügbar sind. Sowohl in den Hilfsorganisationen als auch in den Feuerwehren sowie dem Technische Hilfswerk ist ein beeindruckendes Engagement zu beobachten, um Bildungsprozesse professionell und lernwirksam zu gestalten. Vorrangig besteht demnach überhaupt kein Mangel an relevantem Wissen – eher scheint es ein Transferproblem zu geben, d. h. wertvolle Erkenntnisse liegen zwar längst vor, werden in der Praxis aber (noch) nicht überall umgesetzt.

Zahlreiche Besonderheiten, die in Aus-, Fort- und Weiterbildungen für den Bevölkerungsschutz zu beachten sind, konnten im bisherigen Projektverlauf identifiziert und herausgearbeitet werden. Beispielsweise ist hier auf die enorme Heterogenität von Lernenden hinzuweisen, die unterschiedliche Vorerfahrungen, Motive für ihr Engagement und sehr individuelle Bildungsbiographien mitbringen. Vor diesem Hintergrund müssen Lehr- und Lernarrangements im Bevölkerungsschutz v. a. zielgruppenspezifisch und auch individuell differenziert gestaltet werden. Flexibel nutzbare Online-Angebote werden vor diesem Hintergrund zukünftig sicherlich eine immer größere Rolle spielen.

Aber auch die Charakteristika von Krisen- und Katastrophensituationen sind in einsatzvorbereitenden Bildungsprozessen zu berücksichtigen. Dazu gehören u. a. eine hohe Ereignisvarianz, relative Seltenheit, Ergebnisoffenheit, Komplexität, Interdependenz, existenzielle Relevanz, emotionale Aufladung und fast immer bestehender Handlungsdruck. Aus diesen Merkmalen lässt sich ableiten, was bei Einsatzkräften in besonderer Weise entwickelt und gefördert werden muss, so z. B. Flexibilität, Ambiguitätstoleranz bzw. die Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen sowie Stressfestigkeit und persönliche Resilienz.

Deutlich geworden ist ferner, dass es bei der Gestaltung von Aus-, Fort- und Weiterbildungen im Bevölkerungsschutz ein Dilemma zwischen Notwendigem, Wünschenswerten und tatsäch-lich Machbarem gibt. Rahmenbedingungen des pädagogischen Handelns sind offenbar nicht immer ideal. Zugespitzt formuliert entsteht manchmal der Eindruck, dass Bildung „nichts kosten, keinen großen Aufwand bereiten und möglichst schnell erledigt sein soll“, damit Helferinnen und Helfer „fertig“ für Einsätze zur Verfügung zu stehen.

Diese Vorstellung steht allerdings in einem deutlichen Gegensatz zu den Erkenntnissen bezüglich der Entwicklung von Kompetenz: Nur einen Lehrgang zu absolvieren, ist in der Regel unzureichend und sorgt allenfalls für eine formelle Qualifikation: Tatsächliche Handlungskompetenz entwickelt sich erst mit zunehmender Erfahrung und der Reflexion eben dieser Erfahrung. Nicht zuletzt ist eine konstruktive Führungs- und Feedbackkultur wünschenswert. Hier könnten Konzepte für eine systematische Lernbegleitung hilfreich sein, die es in den Einsatzorganisationen zwar bereits vereinzelt, aber bislang nicht flächendeckend gibt.

Weitere pädagogische Herausforderungen bestehen in der nachhaltigen Vermittlung von Fähigkeiten, die unter realen Einsatzbedingungen nur sehr selten benötigt werden. Nicht zuletzt kommt der Entwicklung und Förderung von Sozialkompetenz sowie von ethischem Problembewusstsein und Reflexionsfähigkeit auch und gerade im Bevölkerungsschutz eine besondere Bedeutung zu.

Ausblick

Das Forschungsprojekt zur Entwicklung einer bereichsspezifischen und kompetenzorientierten Bevölkerungsschutzdidaktik wird noch einige Monate fortgeführt und soll im September 2025 abgeschlossen sein. Die Ergebnisse der Studie werden voraussichtlich Anfang 2026 veröffentlicht und interessierten Lehrkräften im Bevölkerungsschutz selbstverständlich zur Verfügung gestellt.

Weitere Informationen: www.beschudi.de

Autor: Prof. Dr. Harald Karutz

Mit WhatsApp immer auf dem neuesten Stand bleiben!

Abonnieren Sie unseren WhatsApp-Kanal, um die Neuigkeiten direkt auf Ihr Handy zu erhalten. Einfach den QR-Code auf Ihrem Smartphone einscannen oder – sollten Sie hier bereits mit Ihrem Mobile lesen – diesem Link folgen:

Kennen Sie schon unser Crisis Prevention Printmagazin?

Beitrag teilen

Das könnte Sie auch interessieren

Verwendete Schlagwörter

BBKBevölkerungsschutzKatastrophenschutzVermittlung
Index