Das Bildungswesen als KRITIS?

Einrichtungen und Systeme, die zur Kritischen Infrastruktur (KRITIS) gehören, stehen unter einem besonderen Schutz, damit sie auch zu Krisenzeiten funktionsfähig bleiben. Typischerweise denkt man dabei zunächst an das Gesundheitswesen oder den Energiesektor. Obwohl Bildung einen zentralen Wert in der Gesellschaft einnimmt und die Schulschließungen aus Pandemie-Zeiten vielen Aussagen zufolge nicht wiederholt werden sollen, stellt sich auch heute noch die Frage: Zählen Schulen zur Kritischen Infrastruktur? 

KRITIS: Im Kontext von Diskussionen um die Krisenfestigkeit Deutschlands fällt der Blick auch auf das Bildungswesen
Im Kontext von Diskussionen um die Krisenfestigkeit Deutschlands fällt der Blick auch auf das Bildungswesen
Bild: Freepik.com/user15245033

Welche Bereiche zur Kritischen Infrastruktur gehören und unter welchen besonderen Schutzmaßnahmen sie stehen, wird auf Bundesebene durch das BSI-Gesetz definiert. Das Bundesinnenministerium erlässt dazu bundesrechtliche Regelungen, denen die einzelnen Länder nachkommen müssen, während im Sinne des föderalistischen Prinzips länderintern Erweiterungen und Konkretisierungen dieser Regelungen durch die Innenministerien vorgenommen werden können. Bundesweit werden Maßnahmen zur informationstechnischen Sicherung der kritischen Bereiche durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) aufgesetzt und an die Länder zu deren Umsetzung empfohlen. Weitere Maßnahmen im Bereich der KRITIS können von verschiedenen Stellen durchgeführt werden, vorrangig durch die Polizei, die Feuerwehr oder andere Behörden des Katastrophenschutzes.

Einteilung der Kritischen Infrastrukturen
Einteilung der Kritischen Infrastrukturen
Bild: Grafik des BBK

Worin besteht die Vulnerabilität von Kritischen Infrastrukturen?

Die Leistungen, die von den Sektoren und Branchen der KRITIS für die Allgemeinheit erbracht werden, sind unabhängig von besonderen Krisenlagen für das Funktionieren der Gesellschaft unerlässlich. Daher ist es sehr wichtig, die Faktoren, die diese Funktionstüchtigkeit gefährden können, zu betrachten. Hier ist vorrangig die physische und personelle Sicherheit zu erwähnen, aber auch die Cybersicherheit, das Einhalten von Lieferketten, natürliche Risiken, das Funktionieren von Kommunikationssystemen, die generelle Abhängigkeit von Technologie und weiteren systemrelevanten Einrichtungen.

Das vor Kurzem gescheiterte KRITIS-Dachgesetz hätte erstmals bundesgesetzlich und sektorübergreifend Regelungen zu einem solchen Schutz Kritischer Infrastrukturen in einem Paket zur Verfügung gestellt. So bleibt es daher insbesondere in Bezug auf privatwirtschaftlich geführte KRITIS-Objekte bei dem Ansatz von ‚freiwilliger Selbstverpflichtung‘ zu besonderen Schutzmaßnahmen, die in verschiedenen Fachgesetzen jeweils niedergeschrieben worden sind. Generell wären einige Bereiche der Bundesverwaltung und solche Teile, die per Grundgesetz in der Zuständigkeit der Länder und Kommunen liegen, nicht durch das Dachgesetz abgedeckt worden. Dazu zählen neben Kultur, Polizei und Katastrophenschutz auch die Einrichtungen des Bildungswesens.

KRITIS und das Bildungswesen

Das Land Nordrhein-Westfalen definiert in seinem länderbezogenen KRITIS-Dokument von 2024 Kritische Infrastrukturen als „Einrichtungen und Systeme, deren Beeinträchtigung erhebliche Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit, die wirtschaftliche Stabilität oder das öffentliche Wohlergehen“ haben. Diese drei Punkte lassen sich jeweils für alle Sektoren durchexerzieren und führen dementsprechend zu den besonderen Schutzmaßnahmen. Das Bildungswesen wird in dem nordrhein-westfälischen KRITIS-Dokument explizit als keine Kritische Infrastruktur bezeichnet – und auch auf Bundesebene gilt diese Aussage.

Dabei wurden Anfang 2023 in Nordrhein-Westfalen noch Diskussionen zu einem letztlich erfolglosen SPD-Antrag geführt, der den Vorschlag vorsah, Schulen und Kindergärten zur KRITIS zu zählen. Mit besonderer Nachdrücklichkeit hätte der Argumentation der nordrhein-westfälischen SPD zufolge in Zeiten der Corona-Pandemie wahrgenommen werden können, dass der zuvor scheinbar natürliche Zugang zu Bildung eine entscheidende Komponente der deutschen Gesellschaft darstellte, weshalb man in Zukunft diesen Einrichtungen einen besonderen Schutzstatus verleihen sollte. Die CDU hielt dagegen, dass eine solche Krisenfestigkeit unabhängig von dem KRITIS-Status eine Daueraufgabe sei, während die Grünen die Diskussion als reine Etikettierung mit unschönen Auswirkungen auf den Verwaltungsaufwand bezeichneten.

Die Kritikalität der Schulschließungen zu Pandemie-Zeiten

Die Schulschließungen und das uneinheitliche Vorgehen in Sachen Homeschooling haben offenbart, dass das deutsche Bildungssystem weder strukturell noch organisatorisch auf flächendeckende und länger anhaltende Krisenlagen vorbereitet war.

Diesem Umstand widmeten Forschende der Medical School Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Harald Karutz besondere Aufmerksamkeit im Rahmen der vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) geförderten Studie BeKRITIS. Diese wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Bildungswesen als Kritische Infrastruktur betrachtet werden könne, lieferte als Ergebnis, dass von diesem Sektor eine hohe Vulnerabilität und Kritikalität ausgehe: So sei etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung direkt oder indirekt abhängig vom Funktionieren der Bildungseinrichtungen – schulpflichtige Kinder und Jugendliche hinsichtlich des Lernalltags, Lehrkräfte und Erziehende mit Blick auf ihre Berufstätigkeit, aber vor allem auch berufstätige Eltern, die bei Schulschließungen ihrer eigenen Arbeit nicht mehr geregelt nachgehen könnten.

Solche Kaskadeneffekte wirkten sich somit auch auf andere öffentliche Einrichtungen und Kritische Infrastrukturen aus, sodass die Studie den logischen Schluss ermöglicht, dass Einschränkungen im Bildungswesen auch die öffentliche Sicherheit und die wirtschaftliche Stabilität beeinflussen können, die als zwei wesentliche Definitionsmerkmale von KRITIS weiter oben aufgeführt wurden.

Doch auch der dritte Definitionsaspekt, das öffentliche Wohlergehen, nahm laut Prof. Dr. Karutz durch Schulschließungen und Fernunterricht auf verschiedenen Ebenen Schaden. Zunächst sei rein juristisch dem Rechtsanspruch der Kinder auf ein institutionalisiertes Bildungsangebot nicht nachgekommen worden, was schon nach kurzer Zeit bestehende Bildungsungerechtigkeiten verschärft und die Aussicht auf erfolgreiche Bildungsabschlüsse gefährdet habe.

Daneben seien auch die pädagogischen und psychosozialen Schäden zu nennen, die den Hinweisen einiger Lehrkräfte zufolge bis heute noch aufgearbeitet werden müssten. Auf lange Sicht gesehen hielten die Forschenden der BeKRITIS-Studie auch Einbußen im internationalen Wettbewerb, Wohlstandsgefährdung und politische Destabilisierung durch einen längerfristigen Ausfall des Bildungswesens für möglich, wobei sie deutlich machen, dass noch weitere Untersuchungen notwendig seien, um hierzu stichhaltige Aussagen machen zu können.

Fazit: Ist das Bildungswesen eine verkannte Kritische Infrastruktur?

Die Gegenüberstellung der aktuellen Gesetzeslage und ausgewählter bildungswissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt, dass diese Frage sicherlich noch nicht abschließend geklärt worden ist. Auch wenn im Nachgang an die Pandemie oder singuläre Ereignisse wie beispielsweise dem Amoklauf von Winnenden 2009 Verbesserungen in Form von einzelnen thematisch konkreten Notfallplänen vorgenommen worden seien, fehle ein gesamtgesellschaftlicher Überblick, um flexibel auf verschiedenste Notlagen vorbereitet zu sein.

Aspekte, an denen im Vorgang an eine möglicherweise erneute längerfristige Krisenlage gearbeitet werden müssten, betreffen unabhängig von einem zu diskutierenden KRITIS-Status vor allem die folgenden Kritikalitätsaspekte:

  1. Aspekt der Räumlichkeit: Bildungseinrichtungen bedürften ausreichender Raumkapazitäten mit möglicherweise vorhandenen Ausweichkapazitäten, guten Lüftungsmöglichkeiten und einer sicheren (Not-)Stromversorgung.
  2. Rechtliche Aspekte: Es würden Handlungsrahmen und Leitlinien benötigt, um schuladministrative Probleme und Unsicherheiten im Krisenfall zu vermeiden.
  3. Pädagogische Aspekte: In Ausnahmesituationen könne Unterricht nicht einfach nach dem normalen Lehrplan fortgesetzt werden. Außerdem müsse dringend in den Ausbau von Bevölkerungsschutzpädagogik investiert werden, um die Kinder und Jugendlichen zu einer altersgerecht reflektierten und konstruktiven Partizipation am Krisenmanagement heranzuziehen. So könne das Bildungswesen einen wesentlichen und langfristigen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten.

Unberührt von der Frage, ob das Bildungswesen als Kritische Infrastruktur behandelt werden solle oder nicht, führt Prof. Dr. Karutz aus, dass dauerhaft funktionierende Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche von unermesslichem Wert seien, da sie dort nicht nur unterrichtet werden würden, sondern vor allem die Werte von „Kontinuität, Geborgenheit, Orientierung und Hoffnung“ vermittelt bekämen. Dies erscheint gerade in politisch unruhigen Zeiten mehr als relevant.

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